Wenn ich Manuskripte kommentiere, stelle ich viele Fragen. Wer ist dein Protagonist? Was will er erreichen? Was steht auf dem Spiel? Warum sollte ich ihm folgen wollen?
Aber die eigentliche Frage, die hinter all dem steht, spreche ich selten aus:
Bist du bereit, dir selbst zu begegnen?
Charaktere sind Spiegel
Ich kann dir zeigen, wie man einen Spannungsbogen baut. Ich kann dir Hinweise geben, wo deine Dialoge holpern und wo deine Beschreibungen zu lang sind. Das ist Handwerk, und Handwerk lässt sich lernen.
Aber lebendige Charaktere? Die entstehen anders.
Ein dreidimensionaler Charakter braucht mehr als “1,75m groß, braune Haare, Zauberin”. Er braucht Träume. Ängste. Macken. Erinnerungen, die ihn nachts wach halten. Widersprüche, die ihn menschlich machen.
Und woher kommt das?
Aus der Bereitschaft, genau hinzuschauen. An den eigenen Träumen, Ängsten und Widersprüchen anzudocken. An den Teilen in uns, über die wir normalerweise nicht sprechen.
Was unsere Charaktere über uns verraten
Wir schreiben, was wir kennen. Nicht die Fakten – die können wir recherchieren. Aber die innere Haltung. Die Art, wie wir in der Welt stehen.
Wenn ich Manuskripte lese, sehe ich oft Muster:
Passive Protagonisten, denen Dinge passieren – vielleicht, weil wir selbst gerade das Gefühl haben, getrieben zu werden.
Konfliktfreie Geschichten – vielleicht, weil Konflikte in unserem eigenen Leben gerade schwer auszuhalten sind.
Charaktere ohne klare Motivation – vielleicht, weil wir selbst gerade nicht genau wissen, was wir eigentlich wollen.
Das ist keine Kritik. Das ist menschlich.
Und gleichzeitig eine Chance.
Schreiben als Selbsterkenntnis
Schreiben kann mehr sein als das Erzählen einer Geschichte. Es kann ein Weg sein, uns selbst besser kennenzulernen.
Wenn du einen Charakterbogen für deine Protagonistin ausfüllst – wovon träumt sie? Was fürchtet sie am meisten? – dann berührst du vielleicht auch eigene Träume und Ängste.
Wenn du deine Figur vor eine schwere Entscheidung stellst und sie handeln lassen musst – dann lernst du etwas darüber, wie Entscheidungen funktionieren, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Wenn du deiner Figur echte Fallhöhe gibst, echtes Risiko, echte Konsequenzen – dann übst du, mit Unsicherheit umzugehen.
Schreiben kann dich wachsen lassen.
Und wer wächst, schreibt andere Geschichten.
Mein Wunsch
Ich wünsche mir, dass die Autoren, mit denen ich arbeite, nicht nur bessere Bücher schreiben.
Ich wünsche mir, dass Schreiben für sie zu einem Weg wird – zu mehr Klarheit über sich selbst, zu mehr Mut, auch die unbequemen Fragen zu stellen. Ich wünsche mir, dass sie entdecken, wie viel Kraft darin liegt, ehrlich hinzuschauen – auf die eigenen Träume, Ängste, Widersprüche.
Weil die besten Geschichten genau dort entstehen.
Nicht nur in der Theorie über Drei-Akt-Strukturen und Heldenreisen. Sondern in dem Moment, wo wir bereit sind, wirklich ehrlich zu sein – mit uns selbst und auf der Seite.
