Kennst du das? Du sitzt vor deinem Text und weißt genau, was du sagen willst. Aber irgendwie klingt es… tot. Brav. Glattgebügelt. Als hätte jemand anderes es geschrieben, nicht du.
Willkommen im Club der verkopften Schreiber.
Die Maske, die wir tragen
Wir schreiben, wie wir gelernt haben zu schreiben. Schön formuliert. Grammatikalisch korrekt. Mit der richtigen Anzahl Adjektive. Wir wollen gefallen, beeindrucken, nichts falsch machen.

Und genau das ist das Problem.
Verkopftes Schreiben ist eine Maske. Wir zeigen nicht uns selbst, sondern eine Version von uns, von der wir glauben, dass sie akzeptabel ist. Die gut ankommt. Die niemanden vor den Kopf stößt.
Aber ehrlich: Wer will schon einen Text lesen, der so glatt ist, dass man daran abrutscht?
Es geht nicht um “schön” – es geht um echt
Ich habe kürzlich Texte verglichen. Vier verschiedene Autoren, alle mit dem gleichen Problem: Sie schreiben verkopft. Aber jeder auf seine eigene Art.
Die eine will “literarisch” klingen: “duftend neu bezogene Bettchen”, “rote Wangen”, “das Christkind”. Alles so nett und nostalgisch. Und so tot wie ein ausgestopfter Vogel.
Der andere reiht Handlungen aneinander wie eine To-Do-Liste: Er parkte. Er stieg aus. Er verriegelte das Auto. Korrekt, chronologisch, leblos.
Die dritte versteckt sich hinter Beobachtungen: “Anzug und Aktentasche. Ledermantel und Tüten aus der Boutique.” Inventarliste statt Emotion.
Alle drei haben eines gemeinsam: Sie schreiben nicht, was sie FÜHLEN, sondern was sie denken, dass sie schreiben sollten.
Warum tun wir uns das an?
Die Gründe sind verschieden. Manche haben gelernt, dass “gutes Schreiben” kompliziert klingen muss. Andere wollen perfekt sein beim ersten Entwurf. Wieder andere haben Angst, sich zu zeigen.
Bei manchen Menschen kommt noch etwas hinzu: Die Maske ist ein Überlebensmechanismus. Wer jahrelang lernen musste, die eigenen Gefühle zu verstecken, der kann sie auch nicht einfach aufs Papier bringen. Die Maske sitzt zu fest.
Die 1-Minuten-Methode
Also, wie legt man die Maske ab?

Ganz einfach: Man gibt sich keine Zeit, sie aufzusetzen.
So geht’s:
- Ein Satzanfang
- Eine Minute Zeit
- Schreiben ohne abzusetzen
- Nicht nachdenken, nicht korrigieren
Der innere Kritiker braucht Zeit. Bei einer Minute hat er keine Chance.
Übungen zum Ausprobieren
Aufwärmen (1 Minute pro Satzanfang):
- “Der Geruch von…”
- “Als Kind mochte ich…”
- “Das erste Mal, als ich…”
Emotionen (1 Minute pro Satzanfang):
- “Ich sah ihn an und wusste, dass er…”
- “Alle schauten mich an und…”
- “Die Tür ging auf und…”
Wichtig: Der Stift darf nicht stoppen! Auch wenn Unsinn kommt. Gerade wenn Unsinn kommt! Denn zwischen dem Unsinn versteckt sich oft das Echte.
Was dabei herauskommt
Nicht jeder Text aus dem Bauch wird ein Meisterwerk. Manchmal kommt Schrott dabei raus. Aber:

Aus rohem, ehrlichem Material kann man später etwas Gutes machen. Aus überpoliertem, lebenlosem Text nicht.
Der erste Entwurf ist nicht zum Vorzeigen da. Er ist zum Rausholen da. Die Rohfassung. Das ungeschliffene Gold. Die Wahrheit, bevor du sie dir schön redest.
Polieren kannst du später. Erst muss es raus.
Ehrlich schreiben statt “schön” schreiben
Es geht nicht darum, bessere Formulierungen zu finden. Es geht darum, die eigene Stimme wiederzufinden.
Die Stimme, die nicht fragt “Wie klingt das?” sondern sagt “So IST es.”
Die Stimme, die nicht gefallen will, sondern gehört werden will.
Die Stimme, die echt ist. Auch wenn sie wehtut. Gerade wenn sie wehtut.
Denn das ist es, was Leser berührt: Nicht die schönen Worte. Sondern die echten.
