29. März 2024

Über die Verwendung von Adjektiven

Wenn man in einen Text einsteigt, ist oft zunächst eine Beschreibung der Umgebung vonnöten, damit man sich in die Geschichte einfindet und die Welt durch die Augen des Protagonisten sieht. Wo befinden wir uns? Wann befinden wir uns?

Wie sieht es um uns herum aus?

Da ist es doch eine schöne Sache, dass es Adjektive gibt. Wir stellen uns den Raum vor. Dunkle, antike Möbel, Parkettboden, schwere Vorhänge, durch das Fenster scheint die Sonne, draußen ist ein Park in sattem Grün. Und genauso schreiben wir das auch.

Wer ist bei mir? Und wie sehe ich aus?

Ich bin jung, habe lange Haare, rot, grüne Augen, ich bin ein Meter siebenundsechzig und wiege fünfundsechzig Kilo. Meine Sozialversicherungsnummer ist …

Nein, ich sehe es ein, das würde zu weit führen. Die Sozialversicherungsnummer brauchen wir für die Geschichte nicht. Brauchen wir mein Gewicht? Oder die Körpergröße? Wo genau endet die bildhafte Beschreibung der Umgebung und wann wandelt sich die Geschichte in zielloses Geschwafel? Das ist eine schwierige Frage. Und doch wieder nicht so schwer, dass man sie nicht beantworten könnte. Man schildert genau das, was man eben für die Geschichte braucht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wo ist das Problem?

Das Problem ist, dass man ansonsten zum einen den Leser mit unglaublichen Mengen von Details versorgt, die er gar nicht verarbeiten, geschweige denn im Gedächtnis behalten kann. Zum anderen soll die Geschichte – im Regelfall – etwas erzählen über einen Helden oder eine Heldin, die irgendetwas tun oder denen etwas zustößt.

Wenn man nun liest und darauf wartet, was hier passiert und es folgen stattdessen seitenweise Beschreibungen, mit welchem Stoff das Sofa bezogen ist oder aus welchen Blüten der Blumenstrauß in der Ecke besteht, dann wird der Leser ungeduldig und wird über kurz oder lang die Lektüre abbrechen.

Ich kann ja viel behaupten, aber kann ich es auch beweisen?

Ein kurzes Beispiel, freundlicherweise von einem Mitglied des Forums mit einem Lachen zur Verfügung gestellt:

Marie Lou thronte im weißen Rüschennachthemd auf der Bettkante. Ihre schulterlangen, kupferroten Haare und die schneeweiße Haut wetteiferten mit dem strahlend weißen, hauchzarten Nachthemd, wer die meiste Aufmerksamkeit verdient. Marie scherte sich nicht darum. Ihr griffiger Oberkörper schaukelte sanft, und ihre wohlgeformte Nase schnüffelte hingebungsvoll in seinem getragenen blauen T-Shirt. Ohne die süchtige Nase aus dem weichen Stoff zu heben, stand sie auf, machte einen leichten Schwenk nach links. Barfüßig huschte sie bis zur nahen Fensterfront und zog die schweren dunklen Vorhänge auf. Für einen flüchtigen Moment schaute sie, vom linken Wohnturm aus, durchs geöffnete Fenster. Zarte Nebelschwaden flüchteten wie lichtscheue, mystische Nachtwesen vor den ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Rauer Wind brachte aus den nahen Gassen einen bunten Mix der geschäftstüchtigen, morgendlichen Geräuschkulisse. Es sagte ihr: Deine Wahlheimat, die Kleinstadt Brün, erwacht.

Sage und schreibe 32 Adjektive (die Adverbien zähle ich mal dazu) in einem Absatz! Das bremst die Geschichte aus und liefert Unmengen von Informationen, die wir nicht benötigen. Gehen wir das mal im Einzelnen durch.

Welche der Aussagen hat Ihre Aufmerksamkeit geweckt und demnach zur Geschichte beigetragen?

Zerfetzen wir das gute Stück nach alter Kommentar-Tradition:

Meine Aufmerksamkeit lag auf dem weißen Rüschennachthemd, weil es das erste war, was mir in der Geschichte begegnet ist. Vielleicht noch die Haarfarbe und die schneeweiße Haut, die mich ins Stocken gebracht hat. Ist die Dame sterbenskrank? Oder ein Vampir? Nichts dergleichen, die Schilderung hat zunächst nichts mit dem Beginn der Geschichte zu tun. Dann kommt erneut das Nachthemd zur Sprache, es sollte für die Geschichte doch von Bedeutung sein, oder? Nein, ist es nicht. Dann folgt der griffige Oberkörper, meine Gedanken bleiben daran hängen. Was ist ein griffiger Oberkörper? Spielt er eine Rolle? Nein, auch nicht. Meine Aufmerksamkeit erlahmt.

Der Oberkörper schaukelt. Aha. Die Nase ist wohlgeformt. Ist das von Interesse? Nein. Dann, endlich, endlich kommt ein interessantes Detail. Sie riecht an einem Shirt. Ich frage mich, warum sie ein altmodisches Nachthemd trägt, während sie ein modernes Kleidungsstück in den Händen hält. Wir erfahren nichts darüber. Dass es blau ist, interessiert mich wiederum auch nicht, das ist nichts Besonderes. Mich hätte jetzt interessiert, warum sie daran riecht, doch die Geschichte verrät es (zunächst) nicht. Das erzeugt Spannung. Wonach riecht es? Welche Gefühle ruft der Geruch hervor? Wir erfahren nichts darüber. Ob es vielleicht doch nicht wichtig ist? Man erfährt es nicht.

Dann steht sie auf, das Shirt immer noch im Gesicht, was mir befremdlich erscheint, weil sie nichts sehen kann, geht zum Fenster und sieht raus. Wir erfahren, dass es morgens früh ist, was ich mir anhand des Nachthemds schon dachte, und den Namen der Heimatstadt von Marie Lou. Hat das irgendwas mit dem Shirt zu tun? Oder setzt das irgendeine Geschichte in Gang? Für mich nicht. Ich habe also ein gutes Stück Text mit 32 Adjektiven gelesen, von dem für mich nur zurückbleibt, dass sie aus unerfindlichen Gründen an einem Shirt riecht. Reicht das aus, um meine Neugierde zu wecken? Oder Ihre?

Was also tun?

Da ich die Geschichte nicht kenne, kann ich sie jetzt nicht konstruktiv kommentieren, sprich raten, was man stattdessen schreiben sollte. Ich lasse deshalb einfach mal alle weniger wichtigen Details weg (sobald sie gebraucht werden, kann man sie immer noch einflechten) und dichte ein paar andere, die mir interessant erscheinen, dazu.

Vorschlag

Marie Lou saß auf der Bettkante und drückte die Nase in ein zerknittertes Shirt . Der Geruch nach seinem Aftershave begann bereits zu verfliegen. Tief sog sie den Duft mit der Erinnerung an den gestrigen Tag ein, während ihr Oberkörper weltentrückt vor und zurück schaukelte. Zum Fenster wehte die geschäftstüchtige Geräuschkulisse von Brün herein und riss sie aus ihren Träumen. Sie legte das Shirt zur Seite, stand auf und trat ans Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen vertrieben die Nebelschwaden.

5 Adjektive. Und gleich der erste Blick auf dem Objekt des Interesses. Nicht besonders lyrisch, das ließe sich noch verfeinern, aber es bringt den Leser zunächst einmal auf den Punkt und veranlasst ihn, (zunächst) weiterzulesen.

Oder was denken Sie?

Wie bewerten Sie den Beitrag?

Klicken Sie auf einen Stern zum Bewerten!

1 Bewertungen, im Schnitt 5 Sterne

Bisher keine Bewertungen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert