Von unserer Autorin Sabine
Die Frau taumelte durch den Flur, drängte sich an anderen Fahrgästen vorbei, die bei ihrem Anblick bereitwillig Platz machten. Der Waggon schwankte, sie hielt sich links und rechts an allem fest, was greifbar war, lugte durch die Sichtfenster der Schiebetüren, weiter, immer weiter.
Endlich öffnete sie eine davon, betrat ein Abteil und betrachtete zufrieden die leeren Sitzbänke. Seufzend griff sie nach oben, zog eine Hutnadel heraus, setzte den eleganten, schwarzen Hut mit dem altmodischen Schleier ab und legte ihn zusammen mit ihrer Handtasche auf die leere Sitzbank. In einer anmutigen Bewegung zog sie ihre schwarze Kostümjacke am Bund in Form und setzte sich neben ihren Hut.
Endlich Stille. Der gleichmäßige Rhythmus der Räder auf den Gleisen vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit, der Verlässlichkeit. Tadag, tadag, tadag. Sie konnte sich auf das Geräusch konzentrieren, musste nicht mehr an das Schallen der Stimme des Priesters in dem kalten Raum denken. An die Orgelklänge, den schrillen Möchtegern-Sopran ihrer Sitznachbarin, an die Urne mit den Blumengestecken und Kränzen. Jetzt war er endgültig aus ihrem Leben verschwunden, existierte nicht länger.
Gedämpftes Gemurmel der Fahrgäste drang aus dem Flur. Sie blendete es aus, konzentrierte sich auf die Landschaft, die im Dämmerlicht an ihr vorüberflog. Das half, den Kopf zu leeren. Ein Traktor auf dem Feld, kahle Bäume, Hinterhöfe. Alles tauchte ebenso schnell auf, wie es auch wieder verschwand, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Tadag, tadag, tadag.
Ein lautes Scharren durchschnitt das Geratter des Zuges. »So, die Fahrkarte bittschön.« Der Schaffner bemerkte wohl, dass er sie aus den Gedanken gerissen hatte. Sein Blick überflog ihr Gesicht, ihr schwarzes Kostüm. »Tschuldigens.« Die Frau blinzelte, zog den Fahrschein aus der Handtasche und zeigte ihn wortlos vor.
Als sich die Tür mit demselben unangenehmen Knarzen hinter ihm schloss, sperrte sie die Geräusche wieder aus. Ein Blick auf die Uhr. Mindestens eine Stunde würde sie hier noch verbringen müssen. Sie hoffte, dass die Bank gegenüber so lange leer bleiben würde. Wieder starrte sie aus dem Fenster, um die Gedanken zu vertreiben. Tadag, tadag, tadag.
Dieses laute Scharren. Schon wieder. Unwillig löste die Frau ihren Blick von den vorbeihuschenden Schatten. »Sie haben doch vorhin schon …«
Nicht der Schaffner, ein junger Mann sah sie fragend an. »Ist hier noch frei?« Sein Blick über die leeren Bänke degradierte seine Bemerkung zu einer rhetorischen Frage.
Die Frau bemühte sich um ein höfliches Lächeln und deutete einladend auf die gegenüberliegende Bank, als habe sie einen Platz auf dem Canapé ihres heimischen Salons angeboten. Er nickte, lächelte gequält und ließ sich auf den Fensterplatz ihr gegenüber fallen. Die Frau zog demonstrativ die Füße an.
Der Mann hing mehr auf der Bank, als dass er saß. Angestrengt lässig stützte er den Ellbogen auf der Lehne ab und legte das Kinn auf die Faust. Er vermied den Blickkontakt zu seiner Reisegefährtin, starrte aus dem Fenster, verfolgte mit den Augen die Regentropfen, die der Fahrtwind über die Scheibe trieb. Tadag, tadag, tadag.
Die Frau bemühte sich gleichfalls, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Wie sie auch trug er keinen Koffer mit sich. Und trotz der herbstlichen Witterung hatte er keine Jacke dabei. In einer beiläufigen Bewegung, die das Reiben an der Nase vortäuschte, wischte er Tränen mit dem Handrücken weg. Tränen! Wenn es etwas gab, das sie heute nicht brauchte, dann waren es Tränen. Das Leben ging weiter. Es ging immer weiter. Ob man wollte oder nicht. Tadag, tadag, tadag.
Sie beschloss, weiterhin zu schweigen.
Statt sich zu beruhigen, quollen immer mehr Tränen hervor. Er setzte sich aufrechter. »Haben … Entschuldigung … haben Sie vielleicht ein Taschentuch?«
Die Frau zog ein Päckchen hervor und reichte es ihm. Eigentlich hätte sie lieber nicht nachgefragt, aber ihre gute Erziehung setzte sich durch. »Probleme?«
Er deutete mit einem Blick auf ihre Trauerkleidung. »Sicher nicht mehr als Sie. Ist nicht so wichtig.«
Die Frau nickte erleichtert und sah wieder aus dem Fenster. Ihr war klar, dass er es nicht dabei bewenden lassen würde.
Er schluchzte auf. »Sie war …«, er schniefte, »… meine große Liebe.«
Bei den Worten »große Liebe« zuckte die Frau zusammen. Sie hoffte, dass sich jetzt nicht seine Lebensgeschichte über sie ergoss, doch er sprach weiter. »Wir haben uns furchtbar gestritten.«
»Das tut mir sehr leid für Sie. Für Sie beide.«
Er prustete verächtlich. »Der bin ich doch egal. Ich habe die Wohnung verlassen und den nächsten Zug nach Stuttgart genommen. Bei meinem besten Freund kann ich unterkommen, bis ich was anderes gefunden habe. Ich will sie nie wieder sehen.«
»Sie sagen, sie sei ihre große Liebe?«
»Ja sicher, was denn sonst?«
»Sind Sie denn auch ihre große Liebe?«
»Natürlich, wir wollten heiraten.«
Er sprach nicht weiter, wartete scheinbar auf tröstende Worte, die aber ausblieben. »Tut mir leid, dass ich Sie mit meinen Problemen belästige. Darf ich fragen, wen Sie verloren haben?« Die Frau sah ihn kurz an, senkte die Augenlider. »Ich habe ebenfalls meine große Liebe verloren. In diesem Fall allerdings unwiederbringlich.« Sie betonte das letzte Wort, hielt die Augen lange offen, damit sich die Tränen nicht lösten. Es machte keinen Sinn, hier zu sitzen und sich gegenseitig zu bemitleiden.
Lange fiel kein Wort, beide starrten aus dem Fenster. Tadag, tadag, tadag. Dann fühlte sich die Dame zu ein paar knappen Sätzen genötigt. »Vor fünfzig Jahren haben wir uns kennengelernt. Es waren die glücklichsten Tage meines Lebens.«
»Tage? Sie meinten sicher Jahre.«
»Nein, ich meinte Tage.«
Er sah sie irritiert an, wartete auf eine Erklärung, aber sie ging nicht weiter darauf ein. »Ich trage eine Menge Lebenserfahrung mit mir herum, junger Mann. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Fahren Sie zurück und sprechen Sie mit Ihrer Verlobten. Kämpfen Sie um sie. Das Leben fliegt so schnell an uns vorbei wie die Landschaft vor unserem Fenster.« Tadag, tadag, tadag.
Nach einer Pause schüttelte der Mann entschlossen den Kopf. »Sie haben gut reden. Sie haben Ihr Leben mit einem Mann verbracht, den Sie liebten. Wenn man sich einig ist, ist alles leicht.«
»Sicher. Wenn man sich einig ist, ist alles leicht«, wiederholte die Dame nachdenklich.
Der Zug ratterte weiter, hielt gelegentlich mit einem Kreischen, ein Klappen der Türen und weiter ging die Fahrt. Niemand sprach mehr ein Wort. Die Dame zog nun ihrerseits ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Augenlider. Tadag, tadag, tadag.
Sie fuhren an einem Ortsschild vorbei. Die Dame stand auf, setzte den Hut auf, zog ihre Kostümjacke in Form und griff nach der Handtasche. Immer noch standen Tränen in ihren Augen. Sie hielt sich am Griff der Schiebetür fest und drehte sich noch einmal um. »Hören Sie auf Ihr Herz und handeln Sie, bevor es zu spät ist. Sie sind jung und denken, Sie hätten noch viel Zeit. Aber die haben Sie nicht.« Sie starrte ins Leere. »Die haben Sie nicht.«
Der Zug hielt, die Dame schreckte auf. »Ich muss los, mein Mann wartet.« Sie schob die Tür auf und verließ das Abteil.
Überrascht schaute der junge Mann auf. »Aber ich dachte, Ihr Mann sei …« Die Frau hörte ihn schon nicht mehr.
Er drehte den Kopf und versuchte, aus dem Fenster den Bahnsteig zu überblicken. Da war sie, zog wieder die Jacke ihres Kostüms zurecht. Ein Mann trat auf sie zu, betrachtete sie ernst und küsste sie auf den Mund.
Mit einer beiläufigen Bewegung wischte sie eine Träne weg.