15. Oktober 2024

Der Tod Im Sand

Von unserem Autor Michael

Meine Beine frieren auf dem Boden vor der Reithalle fest. Vor diesem riesigen, schwarzen Tor. Keinen Schritt geh ich weiter. Da kannst du ziehen und zerren, so viel du willst, Papa.

»Mensch Kerrie, stell dich nicht so an!«

Glück des Pferdes

Meine Beine frieren auf dem Boden vor der Reithalle fest. Vor diesem riesigen, schwarzen Tor. Keinen Schritt geh ich weiter. Da kannst du ziehen und zerren, so viel du willst, Papa.

»Mensch Kerrie, stell dich nicht so an!«

Willst du mir den Arm ausreißen? Glaubst du, ich bin freiwillig stehen geblieben? Was soll ich dir antworten? Ich bekomme kein Wort raus. Aber ich will ohnehin nicht. Ich will dass du mich endlich loslässt, und dann will ich mich umdrehen und nur noch rennen, egal wohin, nur weit weg von hier.

»Komm schon, du kannst nicht ewig wegrennen.«

»Das hör ich nicht zum ersten Mal!« Was sich bestimmt anhören sollte, wurde zu einem Hauchen. Ich hasse mich dafür. Ich hasse dich. Ich hasse die ganze Welt und diesen Ort besonders.

»Viel Spaß, Kerrie. Ich hol dich dann um fünf ab!«

Ein lautes Knarren fährt mir bis ins Mark. Ich fühle, wie mein Herz aussetzt. Das Tor wird langsam aufgeschoben, fährt nach rechts in die Wand. Ein Geräusch, als knirschte es mit den Zähnen. Ich würde so gerne die Augen schließen, verschwinden, im Boden versinken, sterben, alles ist besser, als hier zu stehen. Meine Augen können nur auf den Spalt starren, der langsam größer wird.

Das letzte Mal hat sich das Tor geöffnet, um mich in einen Rettungswagen zu spucken. Diesmal reißt es sein Maul auf, um mich zu fressen.

»Hallo Kerrie! Schön, dass du den Mut gefunden hast. Komm doch rein!«

Sandra. Wie klein sie aussieht, in diesem gewaltigen Schlund, der sich vor mir aufgetan hat. Klein, muskulös, ganz in Leder gekleidet. Ihre Ausstrahlung bannt mich. Ich kann nur noch ihre Augen sehen, die Welt hört auf zu existieren.

»Komm mit!«

Ich schließe die Augen so fest ich kann. Zwei Worte, und meine Beine gehorchen. Das war keine Bitte. Das war kein Befehl. Das war ein Naturgesetz. Sie sind einfach losgelaufen, haben mich vorher nicht gefragt. Sandra legt einen Arm um mich und führt mich in den Schlund. Ich will nicht, ich will nichts sehen, nichts hören, nicht leben, nicht hier. Mein Körper gehorcht mir nicht, reagiert auf die leiseste Weisung von ihr, beugt sich ihrer Macht.

»Augen auf, Kleines. Rate mal, wer hier ist?«

Ich weiß es eh schon. Ich spüre ihn, sein Geruch wird mich mein Leben lang verfolgen. Wer könnte so etwas jemals wieder vergessen?

»Jetzt mach dich doch mal locker, Kerrie.«

Wie denn, es kommt mir vor, als hätte ich das Wort ’locker’ noch nie gehört.

Als hätten sie einen eigenen Willen, gehen meine Augen weit auf. Felix! Ruhig und selbstbewusst steht er da. Stockmaß eins siebzig, sechshundert Kilo pure Kraft.

»Und jetzt rauf mit dir, aber zackig!«

Sandra, von was träumst du nachts? Ich kann kaum stehen, da komm ich nie rauf.

Meine Hand krallt sich in seine Mähne, mein Fuß stellt sich in den Steigbügel. Mein Körper sattelt auf, der verdammte Verräter, wer hat ihm das erlaubt? Ich versuche gar nicht erst, mich zu wehren, es ist doch ohnehin sinnlos.

Felix!

Er wird es wieder tun. Und es wird ihm Spaß machen.

Eine Berührung an meinen Händen lässt mich zusammenzucken. Ich sehe nicht hin, ich weiß genau, was sie tun, fühle, wie Sandra die Zügel um meine Hände legt. Meine Wangen werden feucht.

»Nein, Sandra, bitte, ich hab es mir anders überlegt, lass mich doch gehen.«

Durch den Tränenschleier kann ich sie kaum sehen. Warum holt mich hier keiner weg? Sandra wird mich nicht gehen lassen. Sie hat Spaß an dem, was sie tut. Niemand wird mir helfen. Nicht hier.

»Vergiss es.« Jeder ihrer Griffe sitzt, strahlt Erfahrung aus, als sie noch ein letztes Mal den Sitz der Riemen kontrolliert. Dann wuschelt sie Felix durch seine braune Mähne, klatscht ihm auf den Hintern, und er trägt mich fort.

Oh nein, genau so hat er das letzte Mal auch angefangen. Ich beiße die Kiefer so fest aufeinander, dass ich Zahnschmerzen bekomme, kralle mich in die Zügel, warte auf den Schmerz, der kommen wird.

Wie konnte ich ihm nur vertrauen? Warum lerne ich nie aus meinen Fehlern? Ich habe ihm doch schon einmal vertraut. Er wird es wieder tun. Warum geht er genau da hin? Warum?

Ich erkenne die Stelle wieder. Die Bohlen, die Nieten, die Maserung, jedes kleine Detail. Ich werde es mein Leben lang nie wieder vergessen, so tief hat sich das Bild in meine Erinnerung gebrannt. Es verschmilzt mit der Gegenwart, ich weiß nicht mehr wo ich bin. Ich sehe mich im Staub liegen. Ich halte meine Hüfte. Ich kann vor Schmerzen nicht mehr aufhören zu schreien, bis ich vor Verzweiflung in den Sand beiße.

Er wird es wieder tun.

Er trabt los. Ich spüre den Sattel hart gegen mich prallen, schneller, immer schneller. Da ist nichts durchgängig, da ist kein Rhythmus. Sein Atem geht heftiger. Ich sehe die Freude in seinen Augen. Dieser Mistkerl, er freut sich wirklich.

»Sei locker, Kerrie, sei entspannt! Sitz den Trab aus, nimm ihn auf!« Sandra, ich hasse dich.

Sandra küsst Felix zu und er reagiert sofort. Ein gewaltiger Stoß reißt mich herum, er ist losgaloppiert, einfach so. Oh nein, es wird wieder passieren. Gleich werde ich wieder da liegen. Ich will es nicht sehen. Ich kann nicht. Ich schließe die Augen, ich bin fort, ganz weit fort, ich komme nie wieder zurück, nicht hierher, nicht zu Sandra, zu niemandem.

Weit weg.

Etwas rührt sich in mir. Mein Körper erinnert sich. Er kann nicht nur gegen meinen Willen aufsteigen. Meine Hüfte streicht den Sattel aus, nimmt die Bewegung auf, leitet sie weiter, eine Welle, die vom Steiß über die Wirbelsäule bis in den Nacken schwingt. Ich bin ganz leicht, ich fließe, unsere Bewegungen werden eins. Das schmerzhafte Hämmern des Sattels gegen mich wird zu einem Gleiten. Es fühlt sich an, als würde ich fliegen. Ein Kitzeln breitet sich in meinem Bauch aus.

Mit dem Schwingen kommen schöne Erinnerungen. Wir fliegen durch den Schnee, Äste streichen an meinem Hut vorbei, mit einem gewaltigen Sprung setzen wir über einen Bach. Eine tiefe Ruhe lässt alle Spannung aus meinem Körper fließen. Meine Bewegungen passen sich Felix’ Vorgabe an, ich tanze, ich schwebe, ich fliege.

Ich fühle, wie sich meine Gesichtszüge lösen, mein Schreien wird zu einem Lachen. Sandra! Sie klatscht, feuert mich an und schwenkt ihren Hut.

Wir nähern uns der Stelle, dem Ort, meinem Grab. Nein! Er wird mich nicht in den Staub werfen. Kein Schmerz, kein Arzt. Nicht diesmal.

Ich küsse Felix zu, presse meine Hüfte rhythmisch an ihn, schneller, immer schneller. Go, Felix, Go! Alles ist gut. Es ist vorbei.

Glück auf dem Pferd

Ich kann es wieder, ich kann wieder galoppieren.

Der Ring der Angst ist gebrochen. Wir fliegen an meiner Nemesis vorbei. Ich sehe die Freude in Felix Augen, nicht weniger lebhaft als meine eigene. Ich sitze fest im Sattel. Ich löse meine Füße aus den Steigbügeln, ich lasse die Zügel los, ich breite die Arme aus und fliege wie ein Vogel.

Ein weiterer Text von Michael: Meeresfrüchte

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