15. Oktober 2024

Leseprobe: Carmen

Von unserer Autorin Silvita

Ich lehne mich an die kühle Wand der Flughafentoilette und atme tief durch. Die Tür wird ständig geöffnet, schließt sich wieder, ein Kommen und Gehen. Vor meinen Augen verschwimmt alles, ich höre das Durcheinanderwirbeln der Stimmen, verschiedene Sprachen, hier und da ein glockenhelles Lachen, die Durchsagen aus der Flughafenhalle.

Es riecht nach einem bunten Gemisch verschiedener Speisen, chinesisch, türkisch, mexikanisch. Mein Magen reagiert mit einem lauten Knurren. Meine Augen sind trocken von der Klimaanlage im Flieger, die Lider kratzen. Ich blinzle mehrmals hektisch, das Bild wird wieder klarer, der Nebel lichtet sich. Eine Weile lausche ich auf das Klackern der High Heels, das Poltern derber Herrenschuhe, die quietschenden Räder der Koffer. Es scheint, als sei die ganze Welt in Eile.

Ich drehe den Wasserhahn auf, spritze mir kühles Wasser ins Gesicht, trinke gierig ein paar Schlucke, lasse das erfrischende Nass über meine Handgelenke laufen, während ich mein Spiegelbild anstarre, die Ringe unter den Augen, die trockenen Lippen. Mit geübten Bewegungen frische ich Mascara und Puder auf, binde mein Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz und trage einen Hauch Labello auf.

Mit gestrafften Schultern trete ich hinaus in den Gang. So viele Ankömmlinge im Eingangsbereich, die abgeholt werden. Auf mich wartet niemand. Mit weiten Schritten folge ich dem Hall des Marmorbodens, reihe mich in die lange Schlange vor der Passkontrolle ein, blicke nach links und rechts und sehe knappe Kleidchen, Vollbärte, Sonnenbrillen, Hüte, Lippen und Nasen in den unterschiedlichsten Formen, Pärchen, die sich an den Händen halten, Kinder, die sich an ihre Mütter klammern. Ich ziehe meinen Ausweis aus der Handtasche, sehne mich danach, diesen Ort zu verlassen, sehne mich nach Ruhe und Frieden. Zentimeter für Zentimeter geht es vorwärts.

Endlich komme ich an die Reihe.

Der Beamte hält meinen Pass in der Hand, mustert ihn, wirft mir einen intensiven Blick zu. Diese sanften braunen Augen passen zu dem gemütlichen Zollbeamten. Sein Bauch spannt sich unter dem blassblauen Hemd, er fährt sich durch das wellige dunkelbraune Haar. „Wie lange haben sie vor, in Deutschland zu bleiben, Frau Vásquez?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Privat oder beruflich hier?“

„Ich möchte das Land kennenlernen. Land und Leute“, sage ich mit einem unverbindlichen Lächeln.

Er starrt auf die wachsende Schlange hinter mir, gibt mir den Ausweis zurück und macht mir den Weg frei. Ein smartes Lächeln, ein verschwörerisches Zwinkern. „Einen angenehmen Aufenthalt.“

„Danke.“

Ich zwinge mich, bewusst langsam zu gehen. Bloß nicht auffallen. Nicht ständig den Kopf drehen, um zu sehen, ob mir jemand folgt.

Vor dem Flughafen warten Taxis auf zahlende Kundschaft. Ich steige ein.

„Herzlich Willkommen“, grüßt mich der Fahrer mit einem breiten Grinsen. „Wo solls denn hingehen?“

In Sekundenschnelle erfasse ich die notwendigen Details. Er ist klein, gedrungen, vielleicht knapp unter sechzig. Vergilbte Zähne, eine dicke Warze auf seiner Knollennase.

„Freiburg. Intercity Hotel am Bahnhof“, erwidere ich knapp.

„Kein Gepäck?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein.“ Mir ist nicht nach Smalltalk. Erschöpft lege ich meinen Kopf gegen das Lederpolster, schließe einen Moment lang die Augen.

Geschafft!

Ich bin tatsächlich angekommen.

Erleichterung durchflutet mich, die Anspannung der letzten Wochen fällt von meinen Schultern ab.

Ich wühle in meiner Handtasche. Es dauert, bis ich das abgegriffene Polaroid finde, dass Ana lächelnd an Xaviers Seite zeigt. Beide stehen vor einer Bar, dem Day & Night.

Die Dunkelheit ist hereingebrochen, auf den Straßen ist nicht viel los. Aus dem Radio dudelt ein Popsong nach dem anderen. Ich versuche, mich zu entspannen. Spüre die Müdigkeit in meinen Knochen, den Hunger in meinen Eingeweiden. Immer wieder trinke ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Gierig. Wie eine Verdurstende.

Knapp eine Stunde später reiche ich dem Fahrer achtzig Euro, betrete das Intercity Hotel und marschiere auf die Rezeption zu.

Eine blonde, adrette Dame in schicker Uniform wendet sich mir zu. Hellgrauer Hosenanzug mit weißer Bluse und einer weinroten Krawatte. Auf ihrer Brust ein Namensschild „Cynthia Meyer.“ Große blaue Augen, eine süße Stupsnase, ein warmherziges Lächeln.

„Guten Abend, Frau Meyer, ich hätte gerne ein Einzelzimmer mit Frühstück.“ Erwartungsvoll schiebe ich ihr meinen Personalausweis rüber.

„Sie haben Glück, Frau Vásquez. Vor einer halben Stunde hat jemand abgesagt.“ Sie zwinkert mir zu, reicht mir den Zimmerschlüssel und nimmt meine Daten auf.

Wenige Minuten später betrete ich Zimmer fünfundzwanzig, schließe die Tür hinter mir ab und kicke die fünfzehn Zentimeter hohen Louboutins in hohem Bogen von meinen Füßen. Mmh. Das tut gut! Flauschiger anthrazitfarbener Teppichboden, weiße Möbel mit silberglänzenden Verzierungen, ein breites Kingsizebett. Auf dem Kopfkissen liegt eine Tafel Hachez Edel-Bitter Sahne. Gierig reiße ich die Verpackung auf und lasse ein großes Stück Schokolade auf meiner Zunge zergehen. Köstlich!

Dann kuschle ich mich in die zartrosa Satinbettwäsche, atme den leichten, sinnlichen Duft nach Magnolien ein. Endlich Ruhe. Endlich Frieden. Genießerisch mache ich mich lang, dehne mich, strecke mich, schnurre wie eine zufriedene Katze. Nur eine Sekunde lang will ich die Freiheit genießen, mich in diesem wundervollen Bett rekeln, ein wenig vor mich hinträumen.

Ob sie meine Spur schon aufgenommen haben?

Ich knirsche so heftig mit den Zähnen, dass es weh tut. Ich muss vorsichtig sein. Muss mich wie ein lautloser Schatten bewegen, wie ein unsichtbarer Geist.

Ana finden.

Xavier finden.

Das ist mein Plan.

Ich gehe ein paar Schritte im Raum umher, nehme mir ein Fläschchen Evian aus der Minibar und krame ein Blister Lorazepam aus meiner Handtasche hervor. Hastig spüle ich zwei Tabletten hinunter. Starre hinaus aus dem Fenster in die Lichter der Stadt.

Ruhig bleiben.

Durchatmen.

Ich gähne, reibe mir die Augen. Die Lider werden schwer. Ich streife meine Klamotten ab. Zuerst das schwarze, ausgeschnittene Seidentop, den knielangen, korallenroten Bleistiftrock mit Seitenschlitz, den schwarzen Spitzen-BH von Victorias Secret, den passenden String, ein Hauch von Nichts.

Die Matratze ist genau richtig, nicht zu weich, nicht zu hart. Die Bettwäsche angenehm kühl auf meiner nackten Haut. Ich schließe meine Augen, konzentriere mich auf meine Atmung, spüre die Schwere, die mich übermannt.

Morgen ist ein neuer Tag.

Morgen werde ich sehen, wie es weitergeht.

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